Tiso, Jozef

Tiso (Tiszó) Jozef, Politiker und Geistlicher. Geb. Nagybiccse, Ungarn (Bytca, SK), 13. 10. 1887; gest. Bratislava (SK), 18. 4. 1947 (hingerichtet).

Sohn des Landwirts und Fleischhauers Jozef Gašpar T. und von Terézia Tisová. → T. trat mit 15 Jahren in das Priesterseminar von Neutra (Nitra) ein und besuchte dort das höhere Gymn. der Piaristen. 1906→10 stud. er Theol. in Wien (u. a. bei →Franz Martin Schindler; Zögling des Pazmaneums); 1910 Priesterweihe; 1911 Dr. theol. Bis 1914 hatte T. mehrere Kaplanstellen inne, 1914→15 wirkte er als Feldkurat, 1915→18 als Religionslehrer in Neutra, 1915→21 als Spiritual am Priesterseminar sowie 1921→24 als bischöfl. Sekr. und Prof. an der dortigen theol. Hochschule; 1924→45 Pfarrer in Bánovce nad Bebravou; 1918→19 Red. der Ztg. „Nitra“, 1924→31 der Z. „Duchovný pastier“. Ab 1925 saß T. als Abg. der von Andrej Hlinka gegr. Slowak. Volkspartei im tschechoslowak. Parlament und fungierte 1927–29 in der Koalitionsregierung →Antonín Švehlas als Gesundheits- und Sportminister; 1930 stellv. Parteivors. und Veröff. seiner programmat. Schrift „Ideológia slovenskej ludovej strany“. Als Chefideologe der Partei lehnte er Liberalismus und Sozialismus ab, bekannte sich zur kath. Soziallehre sowie zum Ständestaat. Nach dem Tod Hlinkas 1938 übernahm T. die Leitung der Partei, das Gros der slowak. polit. Gruppierungen verständigte sich noch im selben Jahr auf eine gem. Stellungnahme zur Autonomiefrage („Abkommen von Žilina“), die auf eine weitgehende Selbstbestimmung abzielte. Prag setzte daraufhin eine autonome slowak. Landesregierung mit T. als Ministerpräs. und Innenminister ein. Als solcher verhandelte er nach dem Münchner Abkommen mit Ungarn über dessen Gebietsansprüche. Im Herbst dieses Jahres vereinigten sich alle maßgebl. slowak. polit. Gruppierungen zu Hlinkas Slowak. Volkspartei → Partei der Slowak. Nationalen Einheit. Aus Furcht vor einem Auseinanderbrechen des Staats löste Staatspräs. Emil Hácha im März 1939, wenige Tage vor dem dt. Einmarsch, den LT auf und entließ T. Nun drängte das Dt. Reich auf eine Unabhängigkeitserklärung der Slowakei und lud T. nach Berlin. Dieser folgte der Einladung, mit Zustimmung des Kabinetts Sidor, des LT-Präsidiums und des Parteivorstands. In Berlin wurde ihm dargelegt, dass die Tschecho-Slowakei in jedem Fall zerschlagen würde, die Slowakei sich jedoch als dem Dt. Reich loyaler Staat für unabhängig erklären könne, andernfalls drohe eine Aufteilung des Landes zwischen Polen und Ungarn. Nach einem tags darauf einstimmig gefassten Beschluss des slowak. LT folgte die Ausrufung eines souveränen, de facto aber von Dtld. abhängigen slowak. Staats. T. wurde dessen Minister- bzw. (wenige Monate später) Staatspräs. Er war bestrebt, einen autoritären Ständestaat auf der Basis der kath. Soziallehre zu errichten. Polit. Akteure außerhalb der drei zugelassenen, auf ethn. Prinzipien basierenden Parteien wurden verfolgt und inhaftiert. T. vertrat innerhalb seiner Partei eine gemäßigtere Richtung und versuchte einer Nazifizierung der slowak. Politik entgegenzuwirken, wobei Vojtech Tuka (1939→44 Ministerpräs., 1940→44 Außenminister) in diesem Konflikt um den polit. Charakter des Staats sein stärkster Gegenspieler war. In diesem Kampf zwischen dem klerikal-ständestaatl. Flügel T.s und den durch die paramilitär. Hlinka-Garde gestützten, pronazist. Radikalen spielte die „Judenfrage“ eine zentrale Rolle. Obschon T. offen einen v. a. wirtschaftl. begründeten Antisemitismus an den Tag legte und antijüd. Gesetze erließ, zeigte er sich → im Gegensatz zu Tuka → bei der von Dtld. geforderten Mitwirkung an der „Endlösung“ nur bedingt kooperativ. Dennoch wurden 1942, v. a. auf Betreiben Tukas, jedoch mit Zustimmung T.s, rund 57.000 slowak. Juden in Vernichtungslager deportiert. Konvertiten und mit Nicht-Juden verheiratete Personen waren anfangs ausgenommen, auch wurden Ausnahmebescheinigungen durch den Präs. bzw. Minister ausgestellt. Aufgrund von Widerstand in der Bevölkerung, Protesten des Vatikans und des slowak. Klerus sowie nicht zuletzt wegen der „Kolonisierungsgebühren“, die für jeden Deportierten an Dtld. zu entrichten waren, wurden die Deportationen im Mai 1942 gestoppt. Bis 1944 widersetzte sich T. erfolgreich der von Dtld. geforderten Wiederaufnahme. Um seine Stellung im internen Machtkampf zu festigen, ließ sich T. im Oktober 1942 zum Vodca (Führer) ausrufen. Der Rücktritt Tukas als Vizeparteivors. im Jänner 1943 markierte endgültig den Sieg von T.s Flügel. Als im Sommer 1944 der v. a. von der bürgerl., tschechoslowak. orientierten Opposition und den Kommunisten getragene Slowak. Nationalaufstand losbrach, erteilte T. die Zustimmung zum Einmarsch dt. Truppen. Diese schlugen den Aufstand zusammen mit der SS und den Bereitschaftseinheiten der Hlinka-Garde nieder. I. d. F. kam es zu neuerl. Deportationen und Massenhinrichtungen von Juden. Die im September 1944 eingesetzte neue Regierung unter T.s Cousin 3. Grads Štefan Tiso (1897→1959) agierte nur noch als Vollstreckerin der Besatzungsmacht. Im April 1945 floh T. über Kremsmünster nach Altötting, wo ihn die Alliierten verhafteten und an die Tschechoslowakei auslieferten. Durch ein Volksgericht in Preßburg wurde er zum Tod verurteilt und im April 1947 gehängt. Die Figur T.s wird in der Historiographie bis in die Gegenwart kontroversiell beurteilt.


Werke: Prejavy a clanky, 3 Bde., ed. M. Fabricius u. a., 2002¿10.
Literatur: Biograph. Lex. Südosteuropas; Pred súdom národa. Proces s Dr. J. T., Dr. F. Durcenským, A. Machom v Bratislave v dnoch 2. dec. 1946 – 15. apr. 1947, 1–5, 1947; J. K. Hoensch, Die Slowakei und Hitlers Ostpolitik, 1965, s. Reg.; Proces s dr. J. T. Spomienky obžalobcu A. Rašlu a obhájcu E. Žabkaya, 1990; Pokus o politický a osobný profil J. T., ed. V. Bystrický – Š. Fano, 1992; K. Culen, Po Svätoplukovi druhá naša hlava, 1992; I. Kamenec, Tragédia politika, knaza a cloveka. Dr. J. T. 1887¿1947, 1998; W. Brandmüller, Holocaust in der Slowakei und kath. Kirche, 2003, s. Reg. (m. B.); T. Tönsmeyer, Das Dritte Reich und die Slowakei 1939¿45, 2003, s. Reg.; M. S. Durica, J. T., 3. Aufl. 2006; J. Pavol, Widerstand oder Kollaboration? Vergleichende Analyse der ... Literatur über Dr. J. T., 2008; J. M. Ward, Priest, Polititian, Collaborator: J. T. and the Making of Fascist Slovakia, 2013, s. Reg. (m. B.); UA, Wien.
Autor: (I. Chalupecký ¿ H. Bergmann)
Referenz: ÖBL 1815-1950, Bd. 14 (Lfg. 65, 2014), S. 354ff.
geboren in Bytča
gestorben in Pressburg

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