Tisza von Borosjenő und Szeged, István Gf.

Tisza von Borosjeno und Szeged István (Stefan) Gf., Politiker. Geb. Pest (Budapest, H), 22. 4. 1861; gest. ebd., 31. 10. 1918 (ermordet); evang. HB.

Sohn von →Kálmán T. v. B.; ab 1883 verheiratet mit seiner Verwandten Ilona T. v. B. → Nach Absolv. des ref. Kollegs in Debreczin (Debrecen) stud. T. Politikwiss., Recht, Wirtschaft und Geschichte in Berlin (nicht nachweisbar), Budapest (1878→79) sowie Heidelberg (1879–80); 1881 Dr. der Staatswiss. in Budapest. Nach kurzer Tätigkeit im Innenmin. verwaltete er ab 1882 die Familiengüter, wurde Mitgl. des Kom.ausschusses und Hon.notar im Kom. Bihar. 1886–1906 war T. als Anhänger der von seinem Vater gegr. regierenden Liberalen Partei Mitgl. des AH. Als Konservativ-Liberaler vertrat er konsequent den Manchesterkapitalismus und bekämpfte in seinen wirtschaftspolit. Stud. und Veröff. die protektionist. Bestrebungen der Agrarier. T. galt als repräsentative Persönlichkeit der sog. Merkantilen, 1890→1901 war er u. a. Vors. der Ung. Ind.- und Handelsbank. Von starken nationalen Gefühlen geleitet, betrachtete er den Ausgleich von 1867, die Großmachtstellung der Habsburgermonarchie und den Zweibund als lebenswichtig für die Festigung und Aufrechterhaltung des ung. Nationalstaats. Separatist. Tendenzen der Opposition bekämpfte er, trat jedoch zugleich gegen Zentralisierungsbestrebungen des Belvedere-Kreises auf, weshalb ihn Erzhg. →Franz Ferdinand 1904 sogar als Hochverräter bezeichnete. Bereits 1889 sprach er von der Möglichkeit eines großen europ. Kriegs, setzte sich für die Stärkung der österr.-ung. Armee und die innere Stabilität Ungarns ein und forderte eine strengere Geschäftsordnung für das Parlament, um Obstruktion zu verhindern. Als starker Mann der Regierungspartei wurde T. 1903 Ministerpräs., behielt aber zugleich das Innenmin. und das Min. a latere (letzteres nur bis 1904). Nachdem er im November 1904 mit Gewalt eine Revision der Geschäftsordnung durchgeführt hatte, zerstörte die vereinigte Opposition im Dezember die Einrichtung des Saals und machte die Arbeit des AH unmögl., worauf das Parlament Anfang Jänner 1905 aufgelöst wurde. In den folgenden Wahlen erlitt seine Liberale Partei – zum ersten Mal seit 1875 – eine Niederlage, die Koalition erhielt die Mehrheit. T. musste dennoch als Regierungschef von Februar bis Juni 1905 im Amt bleiben. Im April 1906 löste er seine Partei auf und zog sich aus dem polit. Leben zurück. Nach dem Sturz der Koalitionsregierung (Jänner 1910) gründete er im Februar 1910 die Nationale Partei der Arbeit als Sammelpartei aller 1867er-Kräfte, die bei den Wahlen im Juni desselben Jahres die absolute Mehrheit erreichte. Trotz seines Konstitutionalismus entwickelte er sich → als Gegner der Obstruktion, der Erweiterung des Wahlrechts sowie der Agrarreform → zur Zielscheibe der Linken. Als er im Mai 1912 Präs. des AH wurde, hatte dies blutige Demonstrationen zur Folge. In der Debatte um die 1912 beschlossenen Wehrgesetze ging T. mit harten Mitteln gegen die Opposition vor und verschärfte die parlamentar. Geschäftsordnung. Wenige Tage später schlug ein Attentat auf ihn im Parlament fehl. Im Juni 1913 wurde T. zum zweiten Mal Ministerpräs. (tw. parallel dazu Minister für kroat. Angelegenheiten sowie Minister a latere). T. stellte die konstitutionelle Regierung in Kroatien wieder her und führte ab 1910 letztl. erfolglose Verhh. mit führenden siebenbürg.-rumän. Politikern über eine dauerhafte polit. Vereinbarung. Während der Julikrise 1914 sprach er sich als Einziger im gem. Ministerrat gegen einen Krieg mit Serbien aus. Er gab, v. a. wegen der dt. Garantien schließl. nach, konnte aber immerhin den Verzicht auf jedwede Annexion erreichen. Zu Kriegsausbruch befand sich T. auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Er übte großen Einfluss auf die Außenpolitik aus, protestierte gegen ein Zollbündnis mit Dtld. (Mitteleuropaplan), bremste die Übermacht des Militärs und war ein Gegner eines geplanten österr.-ung.-poln. Trialismus. Sein Ansehen wurde durch den Einfall der rumän. Armee in Siebenbürgen 1916 stark erschüttert. Im Mai 1917 zwang ihn K. →Karl, v. a. wegen seines harten Widerstands in der Wahlreformfrage, zum Rücktritt. T. blieb jedoch bis Mitte Juni im Amt. Danach fungierte er als Führer der Mehrheit im AH. Im September 1918 reiste er als kgl. Beauftragter nach Kroatien und Bosnien und verhandelte in Sarajevo konzessions- und ergebnislos mit südslaw. Oppositionspolitikern. Seine Parlamentsrede vom 17. Oktober 1918, in welcher er den Krieg für verloren erklärte, erregte in der gesamten Monarchie Aufsehen. Als Symbolfigur des Kriegs wurde T. von einer Gruppe Soldaten in seiner Wohnung ermordet. Im ung. hist. Bewusstsein bildet er die letzte große, heroische Politikergestalt. 1897 erhielt Geh. Rat T. durch kgl. Reskript den Gf.titel seines Onkels Lajos Gf. T. v. B. u. S.; ab 1907 gewählter Oberkurator des kalvinist. Kirchendistrikts jenseits der Donau, ab 1910 Mitgl. der MTA.


Werke: W. (tw. auch in dt. Übers.): Gróf T. I. összes munkái, 6 Bde., 1923¿37; Gróf T. I. képviseloházi beszédei, 6 Bde., 1930¿2011.
Literatur: Biograph. Lex. Südosteuropas; O. Czernin, Erinnerungen an Gf. St. T., 1925; F. Herczeg, Gf. St. T., 1926 (m. B.); G. Erényi, Gf. St. T., 1935 (m. B.); L. Lanyi, Le comte É. T. et la guerre de 1914¿18, 1946; Magyarország története 7, red. P. Hanák ¿ F. Mucsi, 1978, S. 641ff. (m. B.); G. Vermes, I. T., 1985 (m. B.); L. Horánszky, T. I. és kora, 1994; F. Pölöskei, I. T., 1994; L. Tokéczki, T. I., 2000; L. Markó u. a., A MTA tagjai 1825–2002, 3, 2003 (m. B.); Új magyar életrajzi lex. 6, 2007; UA, Humboldt-Univ., Berlin, UA, Heidelberg, beide D; UA, Budapest, H.
Autor: (Z. Szász)
Referenz: ÖBL 1815-1950, Bd. 14 (Lfg. 65, 2014), S. 357f.
geboren in Budapest
gestorben in Budapest

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