Thallóczy, Lajos

Thallóczy Lajos (Ludwig), bis 1877 Strommer, Historiker und Politiker. Geb. Kaschau, Ungarn (Košice, SK), 8. 12. 1857; gest. Herceghalom (H), 1. 12. 1916 (Unfall); röm.-kath.

Sohn des Finanzbeamten Benedek Strommer und der Lehrerin Margit, geb. Uhl. – Nach Absolv. des Gymn. in Ofen (Budapest) stud. T. ab 1875 an der Budapester Univ. Geschichte, ab 1877 auch Jus und veröff. erste hist. und archäolog. Aufsätze. 1877 fand er eine Anstellung im Ung. Staatsarchiv; 1878 Dr. phil., 1879 Habil. für ung. Finanz- und Wirtschaftsgeschichte. Der Auftrag des gem. Finanzministers →Béni Kállay v. Nagy-Kálló 1884 zur Aufarbeitung der Geschichte Bosniens und der Herzegowina brachte in T.s Laufbahn die entscheidende Wende. 1885 als Hilfsamtsdir. ins gem. Finanzmin. übernommen und mit der Leitung des gem. Finanzarchivs beauftragt, entfaltete er i. d. F. eine parallele Karriere in polit. Verwaltung und Wiss. 1892 wurde er Dir. des gem. Finanzarchivs, 1896 HR, 1901 Sektionschef, wodurch die bosn.-herzegowin. Kultus- und Unterrichtsangelegenheiten bis zum 1. Weltkrieg in seine Kompetenz fielen. T. trieb konsequent den Ausbau der Volksschulen voran, sprach sich jedoch gegen die Vermehrung von Gymn. und die Gründung einer Univ. in Sarajevo aus. Er galt als Förderer der Errichtung des bosn.-herzegowin. Inst. für Balkanforschung und des Landesmus.neubaus in Sarajevo. Im Theresianum und an der Konsular-Akad. trug T. ab 1891 Geschichte und Staatsrecht Ungarns vor; 1906 ao. Prof. Als Historiker erstellte er in zehnjähriger Forschungsarbeit aus mehr als hundert in- und ausländ. Archiven und Bibl. ein ansehnl. Quellenkorpus zur Geschichte Bosniens. 1894 plante er ein fünfbändiges Urkundenbuch „Monumenta Bosniae“ als Grundlage für die wiss. krit. Aufarbeitung der bosn. Geschichte, doch Kállay v. Nagy-Kálló lehnte dessen Finanzierung ab, weil er von T. eine narrative Landesgeschichte erwartete, die die Bildung einer gesamtbosn. nationalen Identität der konfessionell geteilten Bevölkerung der okkupierten Prov. fördern sollte. Diese integrative Geschichtsdeutung setzte T. in einer 1893 offiziell eingeführten Geschichte Bosniens und der Herzegowina für die Grundschule durch und machte sie mit seiner Überblicksdarstellung in „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“ (Bd. 22, 1901) einer breiten dt.- und ung.sprachigen Leserschaft bekannt. Das Quellenmaterial zur bosn. Geschichte erweiterte T. zu einer geograph. und themat. groß angelegten Ed.serie, die die mittelalterl. Beziehungen Ungarns zu den südl. Nachbargebieten darstellte („Magyarország melléktartományainak oklevéltára“, 1907). Er mobilisierte erfolgreich eine Reihe ung. Historiker für sein Ed.vorhaben und kooperierte i. d. F. intensiv mit Slawisten der Univ. Wien und slawist. Institutionen. Ab 1895 beschäftigte er sich systemat. mit der alban. Geschichte. Nach der Staatsgründung 1912 veröff. er mit →Josef Konstantin Jirecek und →Milan v. Šufflay die Regesten zur mittelalterl. Geschichte der Albaner. Trotz der außen- und machtpolit. Motivation blieben die unter seiner geistigen Führung entstandenen Ed., die sich durch ihre umfassende Quellenerschließung, ihre krit. Methode und fakt. Objektivität auszeichneten, für die spätmittelalterl. Geschichte des nördl. Balkan von grundlegender Bedeutung. Als Experte und graue Eminenz übte T. nicht nur auf balkanpolit. Entscheidungen, sondern auch auf die Lösung der österr.-ung. Streitfragen bedeutenden Einfluss aus. Der lang andauernde österr.-ung. Archivstreit erschütterte seine Position in Wien, weshalb Thronfolger →Franz Ferdinand im Juni 1914 seine Enthebung als Finanzarchivdir. forderte. Auf Vorschlag der ung. Regierung wurde T. 1916 zum Zivillandeskoär. im besetzten Serbien ernannt, um die ung. Interessen zu vertreten und den Übergriffen der Militärverwaltung entgegenzuwirken. Auf der Rückfahrt vom Begräbnis K. →Franz Josephs I. fiel er einem Zugsunglück zum Opfer. T. war ab 1883 k. M., ab 1895 o. Mitgl. der MTA sowie 1875–85 Hilfssekr. und 1913–16 Präs. der Ung. Hist. Ges.


Werke: Weitere W.: s. Szinnyei; Markó; Új magyar életrajzi lex.; Dž. Juzbašic – I. Ress.
Literatur: Szinnyei (m. W.); T. Kraljac¿ic, Kalajev rez¿im u Bosni i Hercegovini (1882–1903), 1987, s. Reg.; H. Heppner, in: Mitt. des österr. Staatsarchivs 41, 1990, S. 156ff.; E. Deusch, in: Österr. in Geschichte und Literatur 45, 2001, H. 1–2, S. 24ff.; R. Okey, in: The Slavonic and East European Review 80, 2002, S. 234ff.; L. Markó u. a., A MTA tagjai 1825–2002, 3, 2003 (m. B., W. u. L.); Új magyar életrajzi lex. 6, 2007 (m. W.); K. Csaplár-Degovics, in: Südostforschungen 68, 2009, S. 205ff.; L. T., der Historiker und Politiker, ed. Dž. Juzbašic – I. Ress, 2010 (m. B., nur Budapester Ausg., u. W.).
Autor: (I. Ress)
Referenz: ÖBL 1815-1950, Bd. 14 (Lfg. 65, 2014), S. 282f.
geboren in Košice
gestorben in Herceghalom

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