Tausk, Viktor

Tausk Viktor, Neurologe, Schriftsteller und Jurist. Geb. Sillein, Ungarn (Žilina, SK), 12. 3. 1879; gest. Wien, 3. 7. 1919 (Selbstmord); mos., ab 1900 evang. AB.

Sohn des Lehrers und Journalisten Hermann T. und von Emilie Roth; ab 1900 verheiratet mit Martha Frisch (geb. Wien, 15. 1. 1881; gest. Nijmegen / NL, 20. 10. 1957), 1908 Scheidung, 1919 Verlobung mit der Pianistin Hilde Loewi (geb. Wien, 8. 7. 1895; gest. London / GB, 15. 3. 1976). – Nach Besuch der Gymn. in Agram (Zagreb), Sarajevo, Fiume (Rijeka) und Ragusa (Dubrovnik) legte T. die Reifeprüfung in Warasdin (Varaždin) ab, stud. ab 1897 Rechtswiss., zunächst in Wien, später in Berlin, und arbeitete daneben als Journalist und Schriftsteller; 1902 Dr. iur. in Wien, betätigte er sich anschließend als Rechtsanwalt in Sarajevo und Mostar. Diesen Beruf gab er jedoch 1905 auf, um wiederum als Schriftsteller und Journalist zu wirken. 1906 übersiedelte er erneut nach Berlin, wo er u. a. für das „Berliner Tageblatt“ und den „Berliner Lokal-Anzeiger“ schrieb und Autoren wie Frank Wedekind sowie den Philosophen Martin Buber kennenlernte. Aufgrund eines psych. Leidens begab sich T. 1907 zur Behandlung in eine Nervenheilanstalt in Ahrweiler (Bad Neuenahr-Ahrweiler). Er begann sich intensiv mit der Psychoanalyse zu beschäftigen und nahm Kontakt zu →Sigmund Freud auf, der ihm riet, nach Wien zu kommen. Dort inskribierte T. 1908 an der med. Fak. und trat der Psychoanalyt. Vereinigung bei, die ihn finanziell unterstützte. Rasch trat T. innerhalb dieser Institution als Vortragsredner, Kursleiter, Red.mitgl. des „Zentralblatts für Psychoanalyse“ sowie durch Publ., etwa den Artikel „Entwertung des Verdrängungsmotivs durch Recompense“ (in: Internationale Z. für Ärztl. Psychoanalyse 1, 1913) hervor. Dort lernte er auch die Schriftstellerin und Psychoanalytikern Lou Andreas-Salomé kennen, mit der er ab 1912 ein Liebesverhältnis hatte. 1914 Dr. med., arbeitete T. anschließend in Wien als Nervenarzt. Nach Ausbruch des 1. Weltkriegs wurde er ab 1915 zunächst als Ass.arzt in Galizien, später als Oberarzt im bosn. Brcko eingesetzt, wobei er sich v. a. mit Kriegsneurosen beschäftigte und eine Stud. „Zur Psychologie des Deserteurs“ (in: Internationale Z. für Ärztl. Psychoanalyse 4, 1917) veröff. Nach Kriegsende eröffnete T. in Wien eine psychoanalyt. Praxis. Trotz des zunehmend gespannten Verhältnisses zu Freud wandte sich T. mit der Bitte an ihn, bei ihm eine Psychoanalyse durchführen zu dürfen. Freud lehnte ab und verwies ihn an Helene Deutsch, die mit T. eine Analyse begann, während sie selbst bei Freud in Behandlung war. Dieses Dreiecksverhältnis führte dazu, dass Deutsch 1919 auf Veranlassung Freuds die Analyse mit T. abrupt abbrach. T. nahm sich im Gefühl, von wichtigen Bezugspersonen verstoßen worden zu sein, das Leben. Bedeutung erlangte T. als Nervenarzt und Psychoanalytiker u. a. durch seine Stud. über Zustandsbilder sog. Kriegspsychosen sowie zu Schizophrenie und Melancholie. Als Erster beschrieb er die Schizophrenie in Begriffen des Ich-Defekts, darunter ein psychot. Krankheitsbild, bei dem der Patient sich durch eine Maschine beeinflusst und sein Denken und Handeln als von ihr gesteuert empfindet (Beeinflussungsapparat). T.s Beitr. „Über die Entstehung des ‚Beeinflussungsapparates‘ in der Schizophrenie“ (in: Internationale Z. für Ärztl. Psychoanalyse 5, 1919) wurde 1933 ins Engl. und 1934 ins Span. übers. Erwähnenswert ist auch seine Stud. „Zur Psychologie des alkoholischen Beschäftigungsdelirs“ (in: Internationale Z. für Ärztl. Psychoanalyse 3, 1915), in der er die bei schwer Alkoholkranken häufig auftretenden psychomotor. Unruhezustände analog zu den sog. Beschäftigungsträumen als Versagensangst deutet, die bei männl. Patienten durch Impotenzangst hervorgerufen wird.


Werke: Weitere W. (s. auch Kreuter): Gesammelte psychoanalyt. und literar. Schriften, ed. H.-J. Metzger, 1983; Sexuality, war and schizophrenia. Collected Psychoanalytic Papers, ed. P. Roazen, 1991.
Literatur: Enc. Jud.; Kreuter (m. W.); NDB (m. L.); S. Freud, in: Internationale Z. für Ärztl. Psychoanalyse 5, 1919, S. 225ff.; K. R. Eissler, Talent and Genius: the fictitious case of T. contra Freud, 1971; M. Tausk, in: American Imago 30, 1973, S. 323ff.; P. Roazen, S. Freud und sein Kreis, 1976, S. 308ff. (m. B.); V. T., ed. D. Vucenov, 1982; K. R. Eissler, V. T.’s suicide, 1983; L. Andreas-Salomé, In der Schule bei Freud, 1983, passim; E. Mühlleiter, Biograph. Lex. der Psychoanalyse, 1992 (m. L.); P. Roazen, Brudertier. S. Freud und V. T.: die Geschichte eines trag. Konflikts, 2002 (m. B.); Wörterbuch der Psychoanalyse, ed. E. Roudinesco – M. Plon, 2004; E. G. Bauer, Freuds Wien, 2008, S. 101ff. (m. B.); H. Doblhofer, Wien und die Psyche, 2009, S. 34ff. (m. B.); J. Zlatarevic, in: Nur über die Grenzen hinaus! Dt. Literaturwiss. in Kontakt mit „Fremdem“, 2010, S. 379ff.; IKG, UA, beide Wien.
Autor: (W. Treß)
Referenz: ÖBL 1815-1950, Bd. 14 (Lfg. 64, 2013), S. 217f.
geboren in Sillein
gestorben in Wien

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