Stekel, Wilhelm

Stekel Wilhelm, Ps. Dr. Serenus, Willy Bojan, Psychoanalytiker. Geb. Bojan, Bukowina (Bojany, Ukraine), 18. 3. 1868; gest. London, Großbritannien, 25. 6. 1940 (Selbstmord); mos.

Sohn eines Kaufmanns. Nach Absolv. des Obergymn. in Cernowitz (Cernivci) stud. S. ab 1887 Med. an der Univ. Wien; 1893 Dr. med. Vor seiner Niederlassung als Nervenarzt absolv. S. eine neurolog.-psychiatr. Ausbildung u. a. bei Krafft-Ebing (s. d.), unter dessen Einfluß er sich bald für sexolog. Fragen interessierte. U. a. widersprach S. der damals gängigen These, sexuelle Aktivitäten bei Kindern seien nur eine Folge von Verführung oder Degeneration, und gestand der infantilen Sexualität autonom-spontane Entwicklungsmöglichkeiten zu. Das Interesse an diesem Thema brachte ihn in Kontakt mit Freud (s. d.). 1902 absolv. S. eine Analyse bei diesem und initiierte i. d. F. die Gründung der Mittwoch-Ges., aus der später die Wr. Psychoanalyt. Vereinigung wurde. S. wurde zum Propagator der Freudschen Ideen und war neben Freud einer der ersten, der die Psychoanalyse als ärztl. Behandlung durchführte. Im Jahrzehnt nach der Gründung der Gruppe beteiligte er sich mit teils innovativen, teils kontroversen Beitrr. an der psychoanalyt. Diskussion. So verwendete er als erster den Begriff „Todestrieb“ als Widerpart des „Sexualtriebs“ und plädierte für eine aktive Behandlungstechnik. Schwerpunkt seines Interesses waren neben sexuellen Fragen die Themen Angst und Traum. Freuds Annahme, Aktualneurosen seien durch unnatürl. Formen der Sexualbetätigung bedingt, widersprach S., der Selbstbefriedigung als natürl. auffaßte. S.s Plädoyer für die Enttabuisierung der Selbstbefriedigung beeinflußte die Reformpädagogik im dt.sprachigen Raum. 1910 gleichzeitig mit A. Adler (s. d.) in den Vorstand der Wr. Psychoanalyt. Vereinigung gewählt, verließen beide kurze Zeit später die Gruppe im Dissens mit Freud. Anlaß für den Austritt S.s war eine Kontroverse um das „Zentralblatt für Psychoanalyse“, dessen Schriftleitung er seit 1910 innehatte. Im 1. Weltkrieg als Militärarzt eingezogen, gründete S. nach dem Krieg die Organisation der unabhängigen ärztl. Analytiker in Wien, zu der das Inst. für Aktive Psychoanalyse sowie das aktivanalyt. Privatambulatorium gehörten. S. verf. etwa 40 Bücher und rund 500 Artikel und war Hrsg. verschiedener Z., wie „Psyche and Eros“ (1920–22), gem. mit Samuel Tannenbaum und H. Silberer (s. d.), „Fortschritte der Sexualwissenschaft und Psychoanalyse“ (1924), „Psychoanalytische Praxis“ (1931) und „Psychotherapeutische Praxis“, gem. mit Arthur Kronfeld (1934–37). 1938 konnte er dank einer Einladung der Tavistock Clinic nach England flüchten.


Werke: s. u. Kreuter; Mühlleitner.
Literatur: Brümmer; Fischer; Giebisch–Gugitz; Hdb. der Emigration; Hdb. jüd. AutorInnen; Kreuter (m. W.); Kürschner, Gel.Kal., 1931; Wininger; F. Wittels, S. Freud. Der Mann – Die Lehre – Die Schule, 1924, S. 197ff.; The Autobiography of W. S., ed. E. A. Gutheil, 1950; W. S. …, ed. W. Schindler, 1980; J. Dvorak, in: Forum 32, 1985, S. 45ff.; M. Stanton, W. S., in: Freud in Exile. Psychoanalysis and its Vicissitudes, ed. E. Timms – N. Segal, 1988; E. Mühlleitner, Biograph. Lex. der Psychoanalyse, 1992, S. 320ff. (m. L. u. W.); B. Nitzschke, in: Aus dem Kreis um S. Freud. ..., ed. E. Federn – G. Wittenberger, 1992, S. 176ff. (m. L.); J. Bos – L. Groenendijk, The Self-Marginalization of W. S., 2007, passim.
Autor: (B. Nitzschke)
Referenz: ÖBL 1815-1950, Bd. 13 (Lfg. 60, 2008), S. 203
geboren in Bojany, obl. Černivci
gestorben in London

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