Sitte, Camillo

Sitte Camillo, Architekt, Stadtplaner und Lehrer. Geb. Wien, 17. 4. 1843; gest. ebd., 16. 11. 1903; röm.-kath.

Sohn von Franz, Vater von Siegfried S. (beide s. d.). Nach Absolv. des Piaristengymn. in Wien (1863) stud. S. bis 1869 Architektur am Wr. polytechn. Inst. u. a. bei H. v. Ferstel (s. d.) und hörte 1864–69 an der Univ. Wien Vorlesungen aus Kunstgeschichte und Archäol. 1871–73 übernahm er von seinem Vater schrittweise die Ausführung des Bauprojekts der Wr. Mechitharistenkirche, für die er 1900 auch das Hochaltarbild sowie Wandgemälde im Kirchenschiff entwarf und tw. selbst ausführte. Die Stilorientierung seiner Arbeiten zeigt ihn am Übergang vom Strengen Historismus zum Späthistorismus: so wandelte er bei der Mechitharistenkirche das Konzept seines Vaters, eine neugot. Gestaltung im Romant. Historismus, in die Formensprache der Florentiner Frührenaissance um; ebenso finden sich in seinem Œuvre Elemente des Barockklassizismus, des josephin. Klassizismus sowie der Neugotik. Neben seiner Tätigkeit als Architekt fungierte S. 1875–83 als erster Dir. der neubegründeten Staatsgewerbeschule in Salzburg; 1883 folgte er dem Ruf nach Wien, um hier die erste Staatsgewerbeschule (Wien 1) zu gründen, deren Dir. er bis zu seinem Tod war. Bes. Bedeutung erlangte S. aber durch seine intensive Auseinandersetzung mit Fragen des Städtebaus und galt schon bald als der führende Stadtbautheoretiker des ausgehenden 19. Jh. Er entwickelte Bebauungspläne für Klein- und Mittelstädte (u. a. Oderfurt/Prívoz 1893–95, Laibach/Ljubljana 1895, Mähr. Ostrau/Ostrava 1897, Reichenberg/Liberec 1901) und war mehrfach als Juror und Gutachter bei Bebauungsvorschlägen tätig (u. a. Stadterweiterungskonkurrenz München 1892–93, Brünn/Brno 1901–02). In seinen insgesamt 150 Publ. behandelte er architekturtheoret., städtebaul., kunsthist. und vielfältige andere kulturelle Themen, wobei sein Spektrum von aktuellen Berr. zu Kunstausst. über Würdigungen und Kritiken zu einzelnen Künstlern (z. B. J. v. Führich, F. v. Schmidt, G. Semper, alle s. d.) bis zu kunsthandwerkl. und fachpädagog. Spezialstud. reichte. 1889 veröff. S. sein wohl bedeutendstes, richtungsweisendes Werk, „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“, in dem er als erster auf die hist. Wurzeln und Qualitäten organ. gewachsener Stadtstrukturen hinwies und damit auch internationale Anerkennung fand, was sich in zahlreichen Aufl. (die letzte 2003) und Übers. dokumentiert. In seinem 1903 erschienenen Aufsatz „Sezession und Monumentalkunst“ wiederum lehnte er die neuen Richtungen der Moderne und des Secessionismus entschieden ab. 1904 gründete er gem. mit Theodor Goeke in Berlin die Z. „Der Städtebau“ und war in theoret. Schriften sowie in Bauforschung und Praxis auch als Denkmalpfleger tätig. Als Musikliebhaber und begeisterter Cellist zählte S. zu den Freunden des Dirigenten Hans Richter (s. d.), der ihn auch in den Kreis der Wagner-Verehrer einführte. In seiner Einstellung zur Religion zeigte sich S. widersprüchl.: Obwohl in einem kath. Elternhaus aufgewachsen – die wichtigsten Werke seines Vaters lagen im Bereich der Kirchenbaukunst – war S. in seiner Frühzeit religionskrit. eingestellt. Später entwickelte er allerdings eine enge Beziehung zum Mechitharistenorden, für den er zahlreiche unentgeltl. Arbeiten durchführte, und wurde Mitgl. der 1892 gegr. kath. Leo-Ges.


Werke: s. Kat. des Nachlaßwerkes der Architekten Franz S., C. S., Siegfried S., 2 Bde., 1979; Der Städte-Bau nach seinen künstler. Grundsätzen, ed. K. Semsroth u. a. (= C. S. Gesamtausg. 3), 2003.
Literatur: Die Wr. Ringstraße 3, s. Reg.; NÖB 6; Wurzbach; R. Schweitzer, C. S.s Beitr. zur Entwicklung des modernen Städtebaues, 1965; G. Fehl, in: ders., Städtebau um die Jh.wende, 1980, S. 173ff.; D. Wieczorek, C. S. et les débuts de l’urbanisme moderne (= Architecture + recherches 16), 1981; G. R. Collins – Ch. Crasemann Collins, C. S. and the birth of modern city planning (= Rizzoli essays on architecture 1), 1986; R. Wurzer, in: Berr. zur Raumforschung und Raumplanung 33, 1989, H. 3–5; W. Amann, Platzgruppen bei C. S., DA Wien, 1991; C. S. e i suoi interpreti, ed. G. Zucconi (= Collana di urbanistica 18), 1992; R. G. Wurzer, C. S. and America (= Stadt und Region. Schriftenr. für Städtebau und Raumplanung 4), 1996; M. Mönninger, Vom Ornament zum Nationalkunstwerk, 1998; M. Schwarz, in: Steine sprechen 38/3, 1999, S. 20ff.; Archiv der TU, Sitte-Archiv am Inst. für Städtebau und Raumplanung, TU, UA, alle Wien.
Autor: (M. Schwarz)
Referenz: ÖBL 1815-1950, Bd. 12 (Lfg. 57, 2004), S. 309f.
geboren in Wien
gestorben in Wien
wirkte in Ostrava 1893-1895
wirkte in Ljubljana 1895
wirkte in Liberec 1901
war Schüler Piaristengymnasium Wien -1863
war Student Kaiserlich-Königliches Polytechnisches Institut (Wien) 1869
war Gasthörer Universität Wien 1864-1869
war Direktor Staatsgewerbeschule (Salzburg) 1875-1883
war Gründer von Staatsgewerbeschule in Wien I 1883
war Herausgeber Der Städtebau 1904
war Mitglied Leogesellschaft 1892

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