Siegel, Carl

Siegel Carl, Philosoph und Mathematiker. Geb. Neuwaldegg, NÖ (Wien), 19. 8. 1872; gest. Graz (Stmk.), 14. 2. 1943 (Verkehrsunfall).

Sohn von Heinrich (s. d.) und Rosa S., einer Tochter des Politikers L. v. Löhner (s. d.). Seiner schon frühzeitigen diesbezügl. Neigung folgend, stud. S. 1890– 94 an der Univ. Wien (im Sommersemester 1893 in Göttingen bei Felix Klein) Mathematik und Physik, hörte aber auch phil. Vorlesungen; 1894 mit der Diss. „Vom ebenen Nullsysteme 2. Grades“ Dr. phil. in Wien. 1895–96 Ass. an der Lehrkanzel für höhere Mathematik an der Techn. Hochschule in Brünn (Brno), war er gleichzeitig Supplent an der dortigen Landes-Oberrealschule, danach in Graz. Durch die Lektüre u. a. von Arbeiten F. Jodls (s. d.), als dessen Schüler er sich ausdrückl. bezeichnet hat, angeregt, begann sich S. mit der Phil. zu beschäftigen; 1898 Lehramtsprüfung für phil. Propädeutik. 1898–1901 wirkte er noch als Gymn.lehrer in Brünn, ab 1901 als Gymn.prof. in Wien. 1900 habil. sich S. an der Techn. Hochschule Brünn für Phil., 1904 an der Univ. Wien für theoret. Phil. Hier hielt er bis 1913 Vorlesungen hauptsächl. aus der Phil.geschichte und über die Methodenlehre der Naturwiss., bis er im selben Jahr als ao. Prof. der Phil. mit bes. Berücksichtigung der Geschichte der Phil. an die Univ. Czernowitz berufen wurde. 1919 wurde er von der rumän. Regierung übernommen und zum o. Prof. ernannt. 1927 kam S. als o. Prof. für Phil. an die Univ. Graz. 1937 pensioniert, war er von 1938 bis zu seinem Tod mit der aushilfsweisen Vertretung seiner ehemaligen Lehrkanzel betraut. 1939 k. M. der Akad. der Wiss. in Wien. S.s Interesse galt v. a. den Grenzgebieten zwischen Literatur- und Phil.geschichte einerseits sowie zwischen systemat. Phil. und naturwiss. Forschung andererseits. Als Erkenntnistheoretiker bezog er die Position eines „Kritischen Empirismus“, einer Synthese von Positivismus und Kritizismus. „Wahrheit“ liegt für ihn nicht im einzelnen Urteil, sondern im Zusammenschluß von Urteilen zu einem System. „Die Wirklichkeit“ ist für S. nur ein Grenzbegriff, dem wir uns durch Aufhebung aller „Wirklichkeiten“ und deren gedankl. Verschmelzung zu nähern suchen. Der Kern aller „Moralität“ liegt nach ihm im Gewissen, und dieses sei nichts anderes als das Sich-eins-Wissen mit der Ges. Somit ist für S.s Weltauffassung ein betont „dynamistischer“ Denkansatz kennzeichnend: Wahrheit, Wirklichkeit und Wert (Kultur) sind nicht ein fertiges Sein, sondern ein ewiges Werden, eine nie vollendbare Aufgabe für das menschl. Bewußtsein.


Werke: Herder als Philosoph, 1907; Geschichte der dt. Naturphil., 1913; Platon und Sokrates, 1920; Grundprobleme der Phil., 1925; Phil., in: Nagl–Zeidler–Castle 3, 1930, S. 17ff.; A. Riehl. Ein Beitr. zur Geschichte des Neukantianismus, 1932; Nietzsches Zarathustra. Gehalt und Gestalt, 1938; Aufsätze in Schulprogrammen und Fachz.; etc.
Literatur: Tagespost (Graz), 16., 17., Kleine Ztg. (Graz), 17. 2. 1943; Almanach Wien 93, 1943, S. 280ff.; Eisler; Kürschner, Gel.Kal., 1931; Ziegenfuss; „Wer ist Wer“, ed. P. Emodi, 1937; A. Rh. Wieser, Die Geschichte des Faches Phil. an der Univ. Wien, phil. Diss. Wien, 1950, S. 169ff.; F. Austeda, in: Die Allgemeinbildende Höhere Schule, 1972, Nr. 7, S. 162ff.; ders., Lex. der Phil., 1989; AVA, UA, beide Wien.
Autor: (F. Austeda)
Referenz: ÖBL 1815-1950, Bd. 12 (Lfg. 56, 2002), S. 234f.
geboren in Wien
gestorben in Graz

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