Scheu, Andreas

Scheu Andreas, Politiker und Schriftsteller. * Wien-Margareten, 27. 1. 1844; † Rapperswil, Kt. St. Gallen (Schweiz), 29. 8. 1927.

Stammte aus einer kinderreichen Handwerkerfamilie, Onkel des Folgenden, Bruder des Politikers, Publizisten und Xylographen Heinrich S. und des Komponisten, Chorleiters und Musikkritikers Josef F. G. S. (beide s. d.); beendete 1860 seine Lehre als Vergolder und Modellierer. 1861/1862 arbeitete er in Prag, kehrte dann nach Wien zurück und wurde 1867 von der Niederösterr. Handels- und Gerwerbekammer zur Weltausst. nach Paris entsandt. 1867 schloß er sich dem Wr. Arbeiterbildungsver. an, wurde bald Leitungsmitgl. und ein bekannter Agitator, der bei zahlreichen Versmlg. in ganz Österr. und Ungarn als Redner auftrat. 1868 war er Sekretär der Arbeiter-Ind.Ausst. in Wien. 1869 wurde S., der auch Mitgl. der Internationalen Arbeiterassociation war, gem. mit Oberwinder, Mühlwasser und Neumayer zum sozialdemokrat. Parteitag nach Eisenach delegiert. 1870 Red. und Hrsg. des sozialdemokrat. Wr. Wochenbl. „Volkswille“, wurde S. im selben Jahr gem. mit anderen wegen Hochverrats – es war der erste Prozeß dieser Art gegen Funktionäre der Arbeiterbewegung – angeklagt und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. 1871 amnestiert, wurde S. in Budapest abermals verhaftet. 1872 schloß er sich im ersten großen Konflikt zwischen Gemäßigten und Radikalen letzteren an, deren Organ die „Gleichheit“ (Wr. Neustadt) wurde. 1874 war S. maßgeblich an der Vorbereitung des Einigungsparteitages in Neudörfl beteiligt. Nach einer weiteren Verhaftung in Prag wanderte er im selben Jahr nach England aus, wo er zunächst bei der Entwicklung moderner Wohnkultur mitarbeitete (W. Morris), später als Generalvertreter für Wäsche und Bier tätig war. Er schloß sich der engl. Arbeiterbewegung an, als deren Vertreter er am 1. internationalen Sozialistenkongreß 1889 in Paris sowie an den internationalen Kongressen in Zürich (1893) und Stuttgart (1907) teilnahm, und gehörte mit Hyndman zu den Gründern und Führern der Socialdemocratic Federation. Zu seinen engsten Freunden zählte der Schriftsteller Shaw. S. blieb auch in England mit der österr. Arbeiterbewegung in Verbindung und wirkte als Korrespondent für die „Gleichheit“ und die „Arbeiter-Zeitung“. 1912 übersiedelte er nach Weimar. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges lebte er, der zu den sozialist. Kriegsgegnern gehörte, bei seinem Bruder Heinrich in der Schweiz und widmete sich seinen schriftsteller. Arbeiten. S., neben Oberwinder der bedeutendste Führer der jungen Arbeiterbewegung, ein glänzender Redner und ausgezeichneter Organisator, verfaßte u. a. zahlreiche Texte von vielgesungenen Arbeiterliedern.


Werke: Ged. ( = Dt. Arbeiterdichtung 5), 1893; Frühlingsboten, ein Maifestspiel, 1893, auch in: Frühes dt. Arbeitertheater 1847–1918, hrsg. von F. Knilli und U. Münchow, (1970) (mit biograph. Vorwort); Maiendämmerung und andere Frühlingslieder. 1899 (Ged.); Umsturzkeime, 3 Tle., mit Anhang: Neugeistlieder in altmod. Gewandung, 1923; Beitrr. in Ztg. und Z.; Übers. aus dem Engl.; etc. Hrsg. und tw. Red.: Volkswille, 1870–73. – Nachlaß, Ver. für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien, und Internationales Inst. für Sozialgeschichte, Amsterdam.
Literatur: Arbeiter-Ztg. vom 30. 8. 1927 und 1. 5. 1948; N. Fr. Pr. vom 30. 8., Gleichheit vom 2. 9. 1927; Bourdet; Giebisch-Gugitz; Kosch; Nagl-Zeidler-Castle 3–4, s. Reg.; H. Oberwinder, Die Arbeiterbewegung in Oesterr., 1875; J. W. Mackail, The life of W. Morris 2, 1899, S. 95f., 127f.; Der Wr. Hochverratsprozeß. Ber. über die Schwurgerichtsverh. gegen A. S. . . ., neu hrsg. von H. Scheu, 1911; L. Brügel, Geschichte der österr. Sozialdemokratie 1–3, 1922, s. Reg.; The letters of W. Morris . . ., hrsg. von Ph. Henderson, (1950), s. Reg.; Lex. Sozialist. dt. Literatur, 1963; H. Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburg. Vielvölkerstaat 1 ( - Veröff. der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Arbeiterbewegung in Österr. l), (1963), s. Reg.; H. Steiner, Die Arbeiterbe wegung Österr. 1867–89 ( = ebenda, 2), (1964), s. Reg.; Ph. Henderson, W. Morris, (1967), s. Reg.; H. Steiner, Die Gebrüder S. ( = Veröff. der Arbeitsgemeinschaft fürGeschichte der Arbeiterbewegung in Österr. 5), (1968), s. Reg.; K. Miersch, Die Arbeiterpresse der Jahre 1869–89 als Kampfmittel der österr. Sozialdemokratie ( = ebenda, 6), (1969), s. Reg.; A. Magaziner, Die Wegbereiter, (1975), S. 24ff.; F.Kaufmann, Sozialdemokratie in Österr., (1978), s. Reg.; R. Löw, Arbeiterbewegung und Zeitgeschichte im Bild 1867–1938, 1986, S. 461f.; Sozialistenprozesse, hrsg. von K. R. Stadler, (1986), S. 20ff., 40ff.; W. Wadl, Liberalismus und soziale Frage in Österr. ( = Stud. zur Geschichte der österr.-ung. Monarchie 23), 1987, s. Reg.; Lex. dt.sprachiger Schriftsteller, neubearb. von K. Böttcher et al., (1987); Sozialdemokratie und Habsburgerstaat, hrsg. von W. Maderthaner ( = Sozialist. Bibl. 1/1), (1988), s. Reg.
Autor: (H. Steiner)
Referenz: ÖBL 1815-1950, Bd. 10 (Lfg. 46, 1990), S. 96
geboren in Wien
gestorben in Rapperswil SG

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