Mayr, Michael

Mayr Michael, Historiker, Archivar und Politiker. * Adlwang (O.Ö.), 10. 4. 1864; † Waldneukirchen (O.Ö.), 21. 5. 1922.

Sohn wohlhabender Bauern; stud. nach Absolv. des Gymn. in Linz-Freinberg und Kremsmünster Geschichte an der Univ. Wien, 1890 Dr. phil., 1889–91 o. Mitgl. des Inst. für österr. Geschichtsforschung; anschließend arbeitete er in Rom an der Edition der Nuntiaturberr. 1892 Eintritt in den Archivdienst zunächst in Wien (Archiv des Finanzmin.), im selben Jahr Versetzung an das Statthaltereiarchiv in Innsbruck, dessen Leitung er bereits 1897 übernahm. 1895 Habil. an der Univ. Innsbruck für österr. und allg. Geschichte. 1900 ao. Prof. für allg. neuere Geschichte mit Beibehaltung seiner Stelle als Archivdir. 1907–11 Reichsratsabg., ab 1908 auch im Tiroler Landtag tätig. 1919 in die Konstituierende Nationalversmlg. gewählt, 17. 10. 1919 Staatssekretär zur Vorbereitung der Verfassung der Republik, 7. 7.–20. 11. 1920 Vorsitzender im Proporzkabinett, 20. 11. 1920–21. 6. 1921 erster Bundeskanzler, Außenmin. und weiterhin Abg. zum Nationalrat. M. war seiner ganzen Veranlagung nach ein Mann der Praxis. So hat er als Archivar nicht nur an seinem Amtssitz in Innsbruck, sondern überhaupt für das gesamte österr. Archivwesen Bleibendes und Zukunftweisendes geschaffen. Blieb auch seinem Versuch, im Rahmen des Bundesstaates eine Neuorganisation des österr. Archivwesens zu erreichen, der volle Erfolg versagt, ist er doch als einer der bedeutendsten österr. Archivare anzusehen. Auf dem Gebiet der Geschichtswiss. trotz einzelner hervorstechender Arbeiten nicht eben überragend, hatte er, obwohl von L. v. Pastor sehr gefördert, unter seinen Fachkollegen an den Hochschulen viele Gegner. Seine Schwenkung von einer ursprünglich liberalen Einstellung zur Richtung der Tiroler Konservativen, letzten Endes aber sein Übergang zur zukunftsträchtigen christlichsozialen Partei trugen ihm den Vorwurf des Opportunismus ein. Jedenfalls verstand er es, die inneren Zwistigkeiten seiner eigenen Partei zu überwinden, so daß er beim Zusammenbruch des alten Staates als eine der wenigen polit. Potenzen Tirols anzusehen war. Obwohl nicht aus Tirol stammend, wurde ihm doch eine Rolle in der Tiroler Sonderpolitik der Umsturzzeit zuteil. Seine Entsendung in die Schweiz in den Novembertagen 1918 galt nicht nur der Beschaffung von Lebensmitteln, sondern hatte auch einen polit. Hintergrund. M. war immer bestrebt, das Mögliche zu erreichen. So hatte seine vermittelnde Tätigkeit als Staatssekretär zur Vorbereitung einer Verfassung starken Anteil an der Glättung der anfangs unüberbrückbar scheinenden Gegensätze zwischen Föderalismus und der Idee eines Bundesstaates. Mit K. Renner gehörte somit M. zu den Gründern des 1919 aufzubauenden neuen Österr. Seine Bemühungen um eine Kredithilfe des Auslandes blieben ohne Erfolg; letzten Endes scheiterte er aber an der Verzweiflungspolitik der Bundesländer, die in demonstrativen Volksabstimmungen den Wunsch nach einem Anschluß an das Dt. Reich ausdrückten. Politik in den Gründungsjahren der Republik konnte nur in einem System von Aushilfen bestehen. Eine solche zu führen, hatte M., der kein Staatsmann im eigentlichen Sinn war, den rechten Zuschnitt.


Literatur: R. P. vom 12. 3. 1918 und 22. 5. 1922; Wr. Ztg. vom 22. 5. und N. Fr. Pr. vom 27. 5. 1922; Memorie dell’Accad. di scienze lettere ed arti degli Agiati in Rovereto, 1903, S. 899; Forschungen und Mitt. zur Geschichte Tirols und Vorarlbergs, Jg. 12, 1915 (Werksverzeichnis als Beilage); MIÖG, Bd. 39, 1923, S. 325 ff.; Archival. Z. 35, 1925, S. 289 f.; J. Richter, M. M. als Historiker und Politiker, phil. Diss. Wien, 1959 (mit Werksverzeichnis); A. Wilhelm, Die Reichsrats-Abg. des allg. Wahlrechtes, 1907; F. Freund, Das österr. Abgeordnetenhaus. Ein biogr. statist. Hdb. 1907–13, 1907; ders., Der österr. Nationalrat. Ein biograph. statist. Hdb. 1920–22, 1922; O. Knauer, Österr. Männer des öff. Lebens von 1848 bis heute, 1960; Krackowizer; Oberösterr. Männergestalten, hrsg. von F. Straßmayr, 1926; Kosch, Das kath. Deutschland; Wer ist’s? 1905–22; Biograph. Jb., 1922; O. Stolz, Geschichte und Bestände des staatlichen Archives (jetzt Landesregierungs-Archives) zu Innsbruck, 1938; Santifaller, n. 140; A. Lhotsky, Geschichte des Inst. für österr. Geschichtsforschung 1854–1954, in: MIÖG, Erg.Bd. 17, 1954, S. 199; G. Oberkofler, Die geschichtlichen Fächer an der phil. Fak. der Univ. Innsbruck 1850–1945, in: Veröff. der Univ. Innsbruck 39, 1969, s. Reg.; O. Stolz, Geschichte des Landes Tirol, Bd. 1, 1955, s. Reg.; L. Frh.v. Pastor, Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, 1950, s. Reg.; Der Schlern, Jg. 46, 1972, H. 5, S. 237.
Referenz: ÖBL 1815-1950, Bd. 5 (Lfg. 25, 1972), S. 439f.
geboren in Adlwang
gestorben in Waldneukirchen

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