Schönbach, Anton Emanuel

Schönbach Anton Emanuel, Germanist und Kulturhistoriker. Geb. Rumburg, Böhmen (Rumburk, Tschechien), 29. 5. 1848; gest. Schruns (Vbg.), 25. 8. 1911.

Sohn des Folgenden. S., bereits von Kindheit an schwer gehbehindert, besuchte ab 1859 in Wien das Piaristengymn., 1867–71 stud. er an der Univ. zuerst vorwiegend Geschichte, bald jedoch konzentrierte er sich – angeregt durch W. Scherer (s. d.) – auf dt. Philol., daneben stud. er auch klass. Sprachen bei Johannes Vahlen sowie Romanistik und Anglistik; 1871 Dr. phil. 1871–72 hörte er germanist. Vorlesungen an der Univ. Berlin bei Karl Müllenhoff. 1872 für dt. Sprache und Literaturgeschichte an der Univ. Wien habil., wurde er bereits 1873 als ao. Prof. für dt. Sprache und Literatur an die Univ. Graz berufen. Dort arbeitete er noch im selben Jahr die Statuten für das im Juli errichtete Seminar für dt. Philol., das erste in der Österr.-ung. Monarchie, aus; 1876 o. Prof. Obwohl S. Berufungen an verschiedene andere Univ. erhielt, blieb er bis zu seinem Tod in Graz, das nicht zuletzt durch sein Wirken zu einem Zentrum germanist. Forschung wurde. Neben dem Ausbau des Seminars engagierte sich S., selbst ein hervorragender Lehrer und Vortragender, bes. für die Lehrerausbildung in seinem Fach. Sein Wirken fand vielfache öff. Anerkennung, u. a. 1881 Reg.Rat., 1900 HR, 1895 korr., 1903 w. Mitgl. der k. Akad. der Wiss. in Wien, 1903 korr. Mitgl. der Preuß. Akad. der Wiss., 1905 Ehrenzeichen für Kunst und Wiss. S.s äußerst umfangreiches Œuvre zeigt eine fachl. Breite und Vielseitigkeit, die ihn nicht nur als Philologen und Literaturhistoriker, sondern auch als Literaturkritiker und Kulturhistoriker Bedeutung erlangen ließ. Obwohl S., bes. in den früheren Jahren, auch über die neuere dt.- und engl.sprachige (insbes. amerikan.) Literatur publ. und lehrte, bildete die geistige Kultur des Mittelalters den großen Rahmen seiner wiss. Tätigkeit, wobei ihn speziell der Einfluß des Christentums auf die „altdeutsche“ Literatur beschäftigte. Dies manifestierte sich v. a. in seinen Stud. zur mittelalterl. Predigtliteratur: Bes. mit seinem – unvollendeten – Hauptwerk, den „Altdeutschen Predigten“ (3 Bde., 1886–91), wies er sich als profunder Kenner der theolog. Texte des Mittelalters aus. Mit diesen Forschungen stehen die bis heute grundlegenden Schriften über Berthold von Regensburg und zahlreiche Einzelstud. (vornehml. publ. in der Z. für dt. Altertum und zuletzt in den Sbb. der Akad. der Wiss.), Sachkommentare, aber auch wichtige Hss.Funde, etwa der Walthariusfragmente, des St. Pauler Neidhartspiels, von Bruchstücken der Kaiserchronik usw., in Verbindung. Durch die Erforschung des Individuums und seines hist. Umfelds, die sich hinter der schriftl. Äußerung verbergen – eine Forderung, die er etwa in „Über Hartmann von Aue“ (1894) herausstellte –, erweist sich S. als Anhänger der „Berliner Schule“ der Germanistik, bes. Müllenhoffs. Bei seiner Beschäftigung mit der zeitgenöss. Literatur des dt.sprachigen Raums und mit Geschichte, Politik und Kultur und Literatur der USA im 19. Jh. hingegen folgt S. Scherers Grundsatz von der „gegenseitigen Erhellung“. Ein glänzender Stilist, verstand es S., neben seinen auf ein wiss. Publikum ausgerichteten Stud. seine Ergebnisse in Form von Essays und Feuilletons auch einer breiteren intellektuellen Publikumsschicht zugängl. zu machen, etwa in seinem als Bd. 1 der Reihe „Führende Geister“ erschienenen „Walther von der Vogelweide“ (1890, 4. Aufl. 1923), in seiner Essaysmlg. „Über Lesen und Bildung“ (1888, 8. Aufl. 1913), seinem populärsten Werk, das aufgrund der angeschlossenen Bücherlisten zu einem lange Zeit maßgebl. Führer durch die belletrist. Literatur wurde, oder in seiner Artikelser. über amerikan. Politik in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ (1890–94). Als Kritiker nahm S. lebhaften Anteil am literar. Schaffen seiner Zeit und war einer der ersten, die die Bedeutung Saars, Gilms zu Rosenegg und F. M. Felders (alle s. d.) erkannten und würdigten. Seine mehr als 550 Rezensionen beziehen sich auf Werke der gesamten dt. Philol. mit ihren verwandten Disziplinen, etwa der Volkskde., der german. Altertumskde., der Anglistik und Skandinavistik, ferner auf die hist. Hilfswiss. und die Geschichte seines Faches und unterstreichen die Weite seiner Interessen und Kenntnisse.


Werke: vgl. Vorlesungs- und Werksverzeichnis bei M. H. Sollinger, s. u., S. 218ff., sowie Schriftenverzeichnis in Euphorion, s. u.
Literatur: Tagespost (Graz), 26. 8., (Abendausg.), N. Fr. Pr., 3. 9. 1911; Hall–Renner; Kosch; Nagl–Zeidler–Castle 2–4, s. Reg.; Otto; A. Sauer, in: Dt. Arbeit 7, 1907/08, S. 623ff. (mit Bild); B. Seuffert, ebenda, 11, 1911/12, S. 218ff.; J. Ranftl, in: Hist.-polit. Bll. für das kath. Deutschland 148, 1911, S. 593ff.; J. Seemüller, in: Almanach Wien 62, 1912, S. 397ff. (mit Bild); E. v. Steinmeyer, in: Biograph. Jb. 16, 1914, S. 256ff.; K. Zwierzina, in: Euphorion 25, 1924, S. 20ff. (Schriftenverzeichnis); A. Sauer, Probleme und Gestalten, hrsg. von O. Pouzar, (= ders., Ges. Schriften 1), 1933, S. 222ff.; M. H. Sollinger, A. E. S. … Sein Leben und Wirken als Gelehrter und Publizist, phil. Diss. Wien, 1970 (mit Werks- und Literaturverzeichnis und Bild); E. Leitner, Die neuere dt. Philol. an der Univ. Graz 1851–1954 (= Publ. aus dem Archiv der Univ. Graz 1), 1973, bes. S. 53ff. (mit Bild); Vom Seminar für dt. Philol. Univ. Graz zum Inst. für Germanistik Karl-Franzens-Univ. Graz, hrsg. von B. Müller-Kampel und R. Müller, 1994 (mit Bild).
Autor: (M. H. Sollinger)
Referenz: ÖBL 1815-1950, Bd. 11 (Lfg. 51, 1995), S. 47f.
geboren in Rumburg
gestorben in Schruns
war ao. Professor Karl-Franzens-Universität Graz 1873

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