Boué, Ami

Boué Ami (Amédée), Geologe und Naturforscher. Geb. Hamburg, Freie Reichsstadt (D), 16. 3. 1794; gest. Wien, 21. 11. 1881 (begraben: Bad Vöslau, Niederösterreich); evang. HB.

Sohn eines Reeders. – Nach seiner Schulausbildung in St. Georg bei Hamburg und ab 1806 in Genf studierte der früh halb verwaiste B. ab 1814 Medizin in Edinburgh; 1817 Dr. med., vervollständigte er seine medizinische und naturwissenschaftliche Ausbildung in Paris, Berlin und Wien, wobei ihn besonders die Erdwissenschaften interessierten. B. unternahm Exkursionen nach Schottland, England, Irland und Frankreich (1823 Pyrenäen), 1824 nach Ungarn, in das Banat und nach Siebenbürgen, wo er v. a. die geologischen Verhältnisse der südlichen Karpaten untersuchte. Diese Forschungen setzte er 1829 in Galizien fort und publizierte 1833 seine eigenen Ergebnisse sowie jene von →Karl Lill von Lilienbach. B. stellte als Erster fest, dass der Karpatenbogen eine Fortsetzung des Alpenbogens ist, und arbeitete die Bedeutung der Fucoidenmergel heraus, die den Zeitabschnitt der Kreide repräsentieren. Ebenso bezog er zu tektonischen Problemen Stellung, wobei er erkannte, dass die Vulkangesteine an Störungen liegen und in einer bestimmten zeitlichen Abfolge abgelagert worden waren. Ab 1835 plante B. Exkursionen in das südöstliche Europa, 1836–38 durchquerte er mehrfach die Balkan-Halbinsel. Seine Beobachtungen und völlig neuen Erkenntnisse über die Geographie, Ethnographie und Geschichte sowie bedeutende geowissenschaftliche Forschungsergebnisse legte er in seinem Hauptwerk „La Turquie d'Europe …“, 1840, 4 Bände, dar. Er erkannte u. a. den Zusammenhang zwischen den kristallinen Gesteinen der Alpen und denen der Rhodopen, wobei er die Entstehung dieser „schistes cristallins“ dem Paläozoikum zuschrieb. Ebenso maß er dem Einfluss der thermalen Metamorphose (Kontaktmetamorphose), mit der er sich bereits 1820 in seinem „Essai géologique sur l'Écosse“ befasst hatte, große Bedeutung zu, indem er die Veränderungen durch die Kontaktmetamorphose des Granits auf die umgebenden Kalke beobachtete. Besonders hervorzuheben sind B.s Erkenntnisse in Bezug auf das Tertiär und die Beckengliederung im Balkangebiet. B. prägte den Begriff Paratethys, für einen Meeresteil, der sich nach Herausbildung der Alpen vom Mittelmeer abtrennte. Von seinen Werken sind v. a. geologische Karten zu nennen, darunter jene von Schottland (1820), von Siebenbürgen (1834), der europäischen Türkei (1842) sowie die unpublizierten Karten von Niederösterreich und Südbayern, Mähren und Westungarn. 1845 erschien als eine der ersten ihrer Art B.s „Carte géologique du globe terrestre“, in der er durch Analogieschlüsse den geologischen Aufbau verschiedener Weltteile eruierte. Seine Bedeutung für die österreichischen Erdwissenschaften liegt u. a. in der Internationalisierung, die er durch seine Kontakte mit England und v. a. Frankreich erreicht hat. Seine reichhaltige Sammlung an französischer erdwissenschaftlicher Literatur übergab er u. a. an das Hofmineralienkabinett, die Geologische Reichsanstalt sowie an private Forscher. 1830 gründete B. in Paris u. a. mit Louis-Constant Prévost, Gérard Paul Deshayes und Jules Desnoyers die Société géologique de France. 1829 wurde er Foreign Member der Geological Society of London, die ihn 1847 mit der Wollaston Palladium Medal auszeichnete. 1849 korrespondierendes und wirkliches Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, stellte er dieser eine bedeutende Stiftung für Forschungen zur Verfügung.


Referenz: ÖBL 1815-1950, Bd. 1 (Lfg. 2, 1954), S. 104
geboren in Hamburg
gestorben in Wien

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